Augustus Rex
23.10.02, 15:57
Und immer wieder: Geschichte!
Weil sich unser Verhältnis zu ihr ändert, weil sie uns verändert
Von Antony Beevor
Die Geschichte wird immer nur vom Ende her geschrieben", klagte Albert
Speer einmal voller Bitterkeit während seiner Verhöre nach dem Krieg. Er
hasste den Gedanken, dass man das Nazi-Regime nur von seinem endgültigen,
grotesken Zusammenbruch her beurteilen würde. Speer weigerte sich einfach
anzuerkennen, dass nichts so sehr die wirkliche Anlage einer Diktatur
enthüllt wie die Art ihres Endes. Aber auch heute ist dieses Thema von
hoher Relevanz, wo sich entwurzelt fühlende junge Menschen, angezogen von
der massenhaften Vernichtung gesichtsloser Feinde in Videos und
elektronischen Spielen, in Illusionen von absoluter Macht, wenn nicht
Bösartigkeit schwelgen.
Kein Land hat freilich mehr getan, den Schrecknissen seiner Vergangenheit
ins Auge zu schauen als Deutschland. Bis in die jüngste
Historikergeneration hinein wird beispielsweise die Quellenlage zu
Gräueltaten der SS oder der Wehrmacht genauestens erforscht. Gelegentlich
hat so viel Engagement der Geschichtsschreibung nicht nur gut getan;
manche Themen erhielten zuweilen eine zu einfache Schwarz-Weiß-Färbung, wo
doch Geschichte nie so ordentlich aufgeht. Im Ausland hört man oft den
Vorwurf, die Deutschen drehten sich zu sehr um sich selbst, wie
selbstverloren, auch dann, wenn sie mit der Nazi-Ära abrechnen. Doch haben
gerade solche Vorwürfe - nicht selten in Witze gekleidet - diese
Introspektion, wo sie besteht, eher noch befördert.
Einmal, nach einer Vorlesung über Stalingrad, zu der man mich nach
Deutschland eingeladen hatte, kam eine junge Frau zu mir ans Podium; sie
wolle, so sagte sie, über die Schuld ihres Landes an Kriegsverbrechen in
der Sowjetunion sprechen. Ihr Vater sei Offizier in der Panzerdivision
Wiener Neustadt gewesen, habe aber später seine Rolle in der Wehrmacht
zutiefst bereut. Er sei dann auch persönlich befreundet gewesen mit dem
wohl umstrittensten "Büßer", Graf von Einsiedl. Einsiedl habe ihr, so
erzählte mir die Frau, versichert, alle in der Wehrmacht hätten von Anfang
an über die Verbrechen in der Sowjetunion gewusst. Dies musste sie mithin
für wahr annehmen - obwohl doch Einsiedl selbst in seinen Memoiren
gesteht, er habe durchaus nicht klar gesehen in dieser Frage bis zu seinem
Damaskus-Erlebnis im Herbst 1942 - also lange nach der schlimmsten Phase
der Ausschreitungen im ersten Jahr nach der Invasion der Sowjetunion.
Ich erwähne dies nur als ein Beispiel, wie leicht sich aus der
Retrospektive moralisch urteilen lässt, gerade auch dann, wenn man sich an
die eigene nationale Brust schlägt. Weitaus schwieriger - und wichtiger -
scheint mir dagegen, sich immer wieder und zuallererst Klarheit zu
verschaffen über die Mentalitäten und den Kontext der Zeit, die zu solchen
Gräueln geführt haben.
Die Geschichte der letzten sechs Monate des Zweiten Weltkrieges,
kulminierend in dem furchtbaren Angriff der Roten Armee auf Berlin, ist
zugleich die Geschichte einer wachsenden Zahl von Soldaten und Zivilisten
in der Falle eines von den Nazis geschaffenen Albtraums. Hitlers Weigerung
zum Rückzug bedeutete eben auch, dass deutsche Frauen und Kinder dem
russischen Vormarsch einfach überantwortet wurden. In meinen Forschungen
konnte ich manchmal kaum unterscheiden zwischen der fast unglaublichen
Verantwortungslosigkeit der Nazis und ihrer gleichzeitig erkennbaren
totalen Inhumanität nicht zuletzt dem eigenen Volk gegenüber. Binnen zehn
Wochen, von Mitte Januar 1945 an, machten sich 8,5 Millionen Menschen aus
Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Schlesien auf die Flucht, zu Schiff,
per Bahn, auf Bauernwagen oder zu Fuß. Stalin rühmte sich dieser Vorgänge
auf der Jalta-Konferenz Churchill gegenüber, als er auf die
Bevölkerungsbewegung im Gefolge der Verschiebung der polnischen Grenze zur
Oder zu sprechen kam. Westliche Politiker hatten sich das Ausmaß der
Vertreibung nie vorstellen können - wir sprechen heute von einem
Zahlenkorridor zwischen zwölf und 16 Millionen.
Tausende ließ man zugweise in Vieh- oder Kohlewaggons zu Tode frieren
oder verhungern, ganz so wie Häftlinge aus Konzentrationslagern. Aufpasser
des Regimes wollten keine ansteckenden Krankheiten durch die Flüchtlinge
eingeschleppt sehen. In vielen Fällen war ihnen aber schon die einfachste
Fürsorge zu viel, und sie reichten die Ankömmlinge einfach an die nächste
Instanz weiter. So sah in Wahrheit die viel gerühmte Volksgenossenschaft
aus, die nationale Kameraderie.
Der Umgang mit der Vergangenheit ist heute in ein neues Stadium getreten.
Begonnen hat ein Normalisierungsprozess - die Deutschen fühlen sich beim
Gedenken an die Opfer des Nazi-Terrors endlich berechtigt, auch an die
eigenen Opfer zu erinnern, besonders unter den Zivilisten. Durch Günter
Grass' Novelle "Im Krebsgang", die Geschichte des Untergangs der "Wilhelm
Gustloff", wurde dieser Prozess sicherlich beschleunigt. Die Tatsache,
dass dieses Schiff am 30. Januar 1945, am zwölften Jahrestag von Hitlers
Machtergreifung also, sank, gibt dem Thema eine eigene Symbolkraft. Wir
müssen, so antwortete Grass sinngemäß auf die Frage, warum gerade er sich
diesem Thema zuwende, hier weiter loten, sonst würde die Rechte sich
dieser Fragen bemächtigen.
Ich möchte den Akzent ein wenig anders setzen. Natürlich ist es nur recht
und billig, dass das schreckliche Leiden der deutschen Zivilisten im
Zweiten Weltkrieg endlich die ihm gebührende Berücksichtigung findet. Und
natürlich geht es ebenso in Ordnung, dass ein demokratisches Deutschland
nach so vielen Jahren ehrlicher Auseinandersetzung mit dem Horror der
Vergangenheit endgültig freikommt vom Schatten kollektiver Schuld. Aber
niemandem, erst recht nicht der extremen Rechten, sollte es gestattet
sein, das Thema des deutschen Leids anno 1945 abzukoppeln davon, was ihm
in den vier Jahren davor vorausging und was das Bedürfnis nach Rache an
den Deutschen überhaupt erst geweckt hat. Auch ist der Begriff der
"Normalisierung" von gefährlichen Missverständnissen bedroht. Noch sind in
Polen und Tschechien nicht alle Ängste verflogen, dass der Rekurs auf die
Enteignungen nach 1945 einen neuen Druck erzeugen könnte, das Rad der
Geschichte zu Gunsten der Nachkommen der damals Enteigneten
zurückzudrehen. Nicht umsonst bildet eine für alle Seiten zufrieden
stellende, klare Antwort auf dieses Problem eine der wichtigsten
Voraussetzungen für die Erweiterung der EU nach Osten.
Das vergangene Jahr führte uns aber auch vor Augen, was für ein Paradox
doch dem europäischen Ideal zu Grunde liegt. Der Aufstieg der Rechten in
Holland - immerhin ein Land, das sich auf seinen Liberalismus einiges
zugute hält -, dann der Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen,
das alles weist auf eine dramatische Abkehr von alten Übereinkünften
bezüglich der Europa-Idee hin. Anstoß gab die Welle der Migration, die
durch die Öffnung der Grenzen nach dem Fall der Mauer entstand und die bis
heute für fortgesetzte Unruhe überall in Europa sorgt. Sind beim
herkömmlichen Argument für eine engere europäische Integration womöglich
Ursache und Wirkung vertauscht worden?
Motiviert durch ein genuines "Nie wieder Krieg!", hatte vor allem die
deutsche Politik in zunehmender europäischer Vertiefung die Garantie sehen
wollen für einen dauerhaften Frieden. Vor den Risiken freilich verschloss
man die Augen: Die Rechnung wurde ohne den Nationalstaat gemacht. Wer aber
den Nationalstaat für obsolet erklärt, erreicht möglicherweise genau das
Gegenteil von dem, was er will. So irrten beispielsweise überzeugte
Europäer wie auch einige von Lionel Jospins Ministern nach ihrem
Wahldebakel, wenn sie meinten, das Phänomen Le Pen könne nur "europäisch"
gelöst werden. Das übersah geflissentlich die Ängste unter den Wählern,
sei es im Blick auf unkontrollierte Einwanderung, sei es auch nur wegen
eines Gefühls allgemeiner Machtlosigkeit. Was hat denn nationale Politik
noch für eine Bedeutung, so wird gefragt, angesichts immer mächtiger
werdender ungewählter Brüsseler Bürokraten?
Vor zwei Jahren, anlässlich eines Abendessens in Berlin, sagte mir ein
deutscher Diplomat, ihn habe an meinem Stalingrad-Buch am meisten meine
These beschäftigt, die Nazis hätten beim Überfall auf die Sowjetunion
Ursache und Wirkung vollkommen verwechselt. Wie konnte das Regime, so
hatte ich damals geschrieben, davon ausgehen, der Angriff werde dem
russischen Nationalgefühl den Todesstoß versetzen? Mein Gesprächspartner
wurde noch mehr verblüfft, als ich ihm gestand, zwar seien die Briten in
ihrer Obsession mit dem Zweiten Weltkrieg zu weit gegangen, aber der
heutige, völlig andersartige Idealismus der Deutschen mache ihnen durchaus
zu schaffen. Ganz entgeistert schließlich schaute er mich an, als ich ihm
berichtete, am führenden Universitätszentrum für Kriegsstudien in
Großbritannien studiere man inzwischen künftige Konfliktszenarien im
vereinten Europa.
Kriege zwischen Staaten, vor allem solche in Europa, gehören gnädig der
Vergangenheit an, auch weil es nie einen Anlass gegeben hat für
ausgewachsene Demokratien, gegeneinander Krieg zu führen. Von dieser
Prämisse aus wirkt der Versuch, Konflikte zu verhindern durch
Amalgamierung von Nationalstaaten, als ob Generäle den nächsten Krieg mit
der Taktik des letzten führen wollten. Es wird dabei übersehen, dass alte
Ressentiments und Eifersüchte durchaus noch am Leben sind und zu neuem
Streit führen können. Das führt uns zur Frage und zur Rolle kollektiver
Identitäten. Europäische Staaten mit starker nationaler Identität haben
immer ihre Binnenverschiedenheiten akzeptiert, einschließlich der
Notwendigkeit, Ressourcen von reicheren zu ärmeren Landesteilen zu
transferieren. Das ist weniger ausgeprägt in Ländern mit einer stärker
fragmentierten Geschichte, also etwa in Belgien, Italien oder auch
Deutschland, wo interregionale Solidarität immer wieder erkämpft werden
muss, sich nicht von selbst versteht.
So viel kann man voraussagen: Die Europäische Union, mit all ihrem
Bemühen um eine europäische Identität, wird eher noch größere Probleme
bekommen auf dem Weg, die binneneuropäischen Verschiedenheiten zu
homogenisieren, als sie einige Nationalstaaten für sich schon in der
Vergangenheit hatten. Als ein griechischer Diplomat mir unlängst
auseinander setzte, die Nordstaaten der EU müssten eine Umverteilung ihres
Wohlstandes als eine Art "Solidaritätssteuer" zu Gunsten der Südstaaten
hinnehmen, damit diese aufholen können, gab ich ihm zur Antwort, das werde
zu einer ähnlichen Situation führen wie mit der Liga Nord in Italien.
Wenden wir den Blick von der EU nach Russland: Hier spielt die
Vergangenheit eine wiederum ganz andere Rolle. Nach Jahrzehnten
sowjetischer Propaganda ist es nicht leicht für die russische
Gesellschaft, ihrer Geschichte offen ins Auge zu schauen. Es geht ja um 70
Jahre - nicht, wie im deutschen Fall, um zwölf -, in denen Millionen von
Menschen auf verbrecherische Weise um ihre Erfüllung gebracht wurden. Der
sowjetische Sieg von 1945 macht es erst recht schwer, grundsätzlich zu
überprüfen, wie der Große Patriotische Krieg denn nun wirklich geführt
wurde. Nachdem er mich wegen meines neuen Buches "Berlin - Das Ende 1945"
erst der Lüge, der Verleumdung und der Blasphemie bezichtigt hatte, meinte
der russische Botschafter in London später zu mir: "Antony, das musst du
verstehen - der vaterländische Sieg ist uns heilig." Ich stimmte ihm zu,
doch mit der Ergänzung, das immense Opfer an menschlichem Leid habe ihn
heilig gemacht. Genau das ist ja der Grund, warum selbst
antistalinistische Russen noch heute solche Probleme haben, dieses Kapitel
ihrer Geschichte aufzuarbeiten.
Russische Leser meines Buches fühlen sich nicht einmal so sehr berührt
durch die Berichte über Massenvergewaltigungen deutscher Frauen als davon,
dass sowjetische Frauen und Mädchen, zur Sklavenarbeit nach Deutschland
verschleppt, ein ähnliches Schicksal erlitten. Das Elend dieser jungen
Frauen, die inständig gehofft und gebetet hatten, von der Roten Armee
befreit zu werden, ist eingehend, mit allen schrecklichen Details, in
einem Geheimbericht an das Zentralkomitee des sowjetischen Jugendverbandes
Komsomol festgehalten worden. Es schwächt auf dramatische Weise das
traditionelle sowjetische Argument, "Exzesse" seien nur vorgekommen als
Rache für deutsche Gräueltaten.
Zum ersten Mal kam in Deutschland in den achtziger Jahren das Thema der
Massenvergewaltigungen allmählich an eine breitere Öffentlichkeit. Noch
heute wollen einige der Opfer nicht mit ihren Erlebnissen heraus, um ihre
Familien vor der dunklen Wahrheit zu schützen. Das ändert sich jetzt. Mich
hat tief bewegt, wie viele nach Großbritannien emigrierte deutsche Frauen
nach der englischen Erstveröffentlichung meines Buches auf mich zugekommen
sind. Mehrere von ihnen bekannten gerade heraus, sie hätten bisher nie
gegenüber ihren britischen Freunden oder Familien über diese Dinge
sprechen können, weil niemand geglaubt hätte, was ihnen widerfahren war.
Geschichte - unser Verhältnis zu ihr selbst ändert sich. Bislang wurde
sie geschrieben mehr unter "kollektiven" Aspekten: die Geschichte eines
Landes, einer sozialen Klasse, einer Armee und so fort. Doch etwa seit den
neunziger Jahren will eine neue Generation, weit gehend befreit von
traditionellen Gruppenloyalitäten, mehr wissen von den Erfahrungen und
Erlebnissen des Individuums schlechthin. In einer Welt, die das
persönliche Risiko weit gehend ausgeschaltet hat, findet es diese
Generation fast unvorstellbar, dass es einmal eine Vergangenheit gegeben
haben soll, so gefährlich, so unvorhersehbar, dass der Einzelne sein
Schicksal fast kaum steuern konnte. Sie fragen sich unwillkürlich, ob sie
wohl selbst das alles überstanden hätten, physisch, moralisch, ob sie
beispielsweise den Mut aufgebracht hätten, die Aufforderung,
Kriegsgefangene oder Zivilisten zu erschießen, zu verweigern.
Doch noch immer klammern sich viele Menschen, ob aus Unsicherheit oder
Frustration, an die Identität ihres Stammes oder Landes. Günter Grass hat
Recht: Unterdrücke diese Gefühle, und du verstärkst nur das Ressentiment,
das aus ihnen erwächst. Viel besser, offen und bestimmt darauf zu
verweisen, was aus ihnen werden kann, wenn man nicht aufpasst. Speer hatte
Unrecht. Die Geschichtsschreibung muss das Ende betonen, weil in ihm die
wahren Folgen grotesker Ideologien evident werden.
Aus dem Englischen von Thomas Kielinger
Von dem britischen Historiker Antony Beevor erschien soeben: "Der
Untergang Berlins 1945" (Bertelsmann, München. 512 S., 24,90 E).
Die Onlineversion dieses Artikels finden Sie unter:
http://www.welt.de/daten/2002/10/19/1019lw363095.htx
Weil sich unser Verhältnis zu ihr ändert, weil sie uns verändert
Von Antony Beevor
Die Geschichte wird immer nur vom Ende her geschrieben", klagte Albert
Speer einmal voller Bitterkeit während seiner Verhöre nach dem Krieg. Er
hasste den Gedanken, dass man das Nazi-Regime nur von seinem endgültigen,
grotesken Zusammenbruch her beurteilen würde. Speer weigerte sich einfach
anzuerkennen, dass nichts so sehr die wirkliche Anlage einer Diktatur
enthüllt wie die Art ihres Endes. Aber auch heute ist dieses Thema von
hoher Relevanz, wo sich entwurzelt fühlende junge Menschen, angezogen von
der massenhaften Vernichtung gesichtsloser Feinde in Videos und
elektronischen Spielen, in Illusionen von absoluter Macht, wenn nicht
Bösartigkeit schwelgen.
Kein Land hat freilich mehr getan, den Schrecknissen seiner Vergangenheit
ins Auge zu schauen als Deutschland. Bis in die jüngste
Historikergeneration hinein wird beispielsweise die Quellenlage zu
Gräueltaten der SS oder der Wehrmacht genauestens erforscht. Gelegentlich
hat so viel Engagement der Geschichtsschreibung nicht nur gut getan;
manche Themen erhielten zuweilen eine zu einfache Schwarz-Weiß-Färbung, wo
doch Geschichte nie so ordentlich aufgeht. Im Ausland hört man oft den
Vorwurf, die Deutschen drehten sich zu sehr um sich selbst, wie
selbstverloren, auch dann, wenn sie mit der Nazi-Ära abrechnen. Doch haben
gerade solche Vorwürfe - nicht selten in Witze gekleidet - diese
Introspektion, wo sie besteht, eher noch befördert.
Einmal, nach einer Vorlesung über Stalingrad, zu der man mich nach
Deutschland eingeladen hatte, kam eine junge Frau zu mir ans Podium; sie
wolle, so sagte sie, über die Schuld ihres Landes an Kriegsverbrechen in
der Sowjetunion sprechen. Ihr Vater sei Offizier in der Panzerdivision
Wiener Neustadt gewesen, habe aber später seine Rolle in der Wehrmacht
zutiefst bereut. Er sei dann auch persönlich befreundet gewesen mit dem
wohl umstrittensten "Büßer", Graf von Einsiedl. Einsiedl habe ihr, so
erzählte mir die Frau, versichert, alle in der Wehrmacht hätten von Anfang
an über die Verbrechen in der Sowjetunion gewusst. Dies musste sie mithin
für wahr annehmen - obwohl doch Einsiedl selbst in seinen Memoiren
gesteht, er habe durchaus nicht klar gesehen in dieser Frage bis zu seinem
Damaskus-Erlebnis im Herbst 1942 - also lange nach der schlimmsten Phase
der Ausschreitungen im ersten Jahr nach der Invasion der Sowjetunion.
Ich erwähne dies nur als ein Beispiel, wie leicht sich aus der
Retrospektive moralisch urteilen lässt, gerade auch dann, wenn man sich an
die eigene nationale Brust schlägt. Weitaus schwieriger - und wichtiger -
scheint mir dagegen, sich immer wieder und zuallererst Klarheit zu
verschaffen über die Mentalitäten und den Kontext der Zeit, die zu solchen
Gräueln geführt haben.
Die Geschichte der letzten sechs Monate des Zweiten Weltkrieges,
kulminierend in dem furchtbaren Angriff der Roten Armee auf Berlin, ist
zugleich die Geschichte einer wachsenden Zahl von Soldaten und Zivilisten
in der Falle eines von den Nazis geschaffenen Albtraums. Hitlers Weigerung
zum Rückzug bedeutete eben auch, dass deutsche Frauen und Kinder dem
russischen Vormarsch einfach überantwortet wurden. In meinen Forschungen
konnte ich manchmal kaum unterscheiden zwischen der fast unglaublichen
Verantwortungslosigkeit der Nazis und ihrer gleichzeitig erkennbaren
totalen Inhumanität nicht zuletzt dem eigenen Volk gegenüber. Binnen zehn
Wochen, von Mitte Januar 1945 an, machten sich 8,5 Millionen Menschen aus
Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Schlesien auf die Flucht, zu Schiff,
per Bahn, auf Bauernwagen oder zu Fuß. Stalin rühmte sich dieser Vorgänge
auf der Jalta-Konferenz Churchill gegenüber, als er auf die
Bevölkerungsbewegung im Gefolge der Verschiebung der polnischen Grenze zur
Oder zu sprechen kam. Westliche Politiker hatten sich das Ausmaß der
Vertreibung nie vorstellen können - wir sprechen heute von einem
Zahlenkorridor zwischen zwölf und 16 Millionen.
Tausende ließ man zugweise in Vieh- oder Kohlewaggons zu Tode frieren
oder verhungern, ganz so wie Häftlinge aus Konzentrationslagern. Aufpasser
des Regimes wollten keine ansteckenden Krankheiten durch die Flüchtlinge
eingeschleppt sehen. In vielen Fällen war ihnen aber schon die einfachste
Fürsorge zu viel, und sie reichten die Ankömmlinge einfach an die nächste
Instanz weiter. So sah in Wahrheit die viel gerühmte Volksgenossenschaft
aus, die nationale Kameraderie.
Der Umgang mit der Vergangenheit ist heute in ein neues Stadium getreten.
Begonnen hat ein Normalisierungsprozess - die Deutschen fühlen sich beim
Gedenken an die Opfer des Nazi-Terrors endlich berechtigt, auch an die
eigenen Opfer zu erinnern, besonders unter den Zivilisten. Durch Günter
Grass' Novelle "Im Krebsgang", die Geschichte des Untergangs der "Wilhelm
Gustloff", wurde dieser Prozess sicherlich beschleunigt. Die Tatsache,
dass dieses Schiff am 30. Januar 1945, am zwölften Jahrestag von Hitlers
Machtergreifung also, sank, gibt dem Thema eine eigene Symbolkraft. Wir
müssen, so antwortete Grass sinngemäß auf die Frage, warum gerade er sich
diesem Thema zuwende, hier weiter loten, sonst würde die Rechte sich
dieser Fragen bemächtigen.
Ich möchte den Akzent ein wenig anders setzen. Natürlich ist es nur recht
und billig, dass das schreckliche Leiden der deutschen Zivilisten im
Zweiten Weltkrieg endlich die ihm gebührende Berücksichtigung findet. Und
natürlich geht es ebenso in Ordnung, dass ein demokratisches Deutschland
nach so vielen Jahren ehrlicher Auseinandersetzung mit dem Horror der
Vergangenheit endgültig freikommt vom Schatten kollektiver Schuld. Aber
niemandem, erst recht nicht der extremen Rechten, sollte es gestattet
sein, das Thema des deutschen Leids anno 1945 abzukoppeln davon, was ihm
in den vier Jahren davor vorausging und was das Bedürfnis nach Rache an
den Deutschen überhaupt erst geweckt hat. Auch ist der Begriff der
"Normalisierung" von gefährlichen Missverständnissen bedroht. Noch sind in
Polen und Tschechien nicht alle Ängste verflogen, dass der Rekurs auf die
Enteignungen nach 1945 einen neuen Druck erzeugen könnte, das Rad der
Geschichte zu Gunsten der Nachkommen der damals Enteigneten
zurückzudrehen. Nicht umsonst bildet eine für alle Seiten zufrieden
stellende, klare Antwort auf dieses Problem eine der wichtigsten
Voraussetzungen für die Erweiterung der EU nach Osten.
Das vergangene Jahr führte uns aber auch vor Augen, was für ein Paradox
doch dem europäischen Ideal zu Grunde liegt. Der Aufstieg der Rechten in
Holland - immerhin ein Land, das sich auf seinen Liberalismus einiges
zugute hält -, dann der Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen,
das alles weist auf eine dramatische Abkehr von alten Übereinkünften
bezüglich der Europa-Idee hin. Anstoß gab die Welle der Migration, die
durch die Öffnung der Grenzen nach dem Fall der Mauer entstand und die bis
heute für fortgesetzte Unruhe überall in Europa sorgt. Sind beim
herkömmlichen Argument für eine engere europäische Integration womöglich
Ursache und Wirkung vertauscht worden?
Motiviert durch ein genuines "Nie wieder Krieg!", hatte vor allem die
deutsche Politik in zunehmender europäischer Vertiefung die Garantie sehen
wollen für einen dauerhaften Frieden. Vor den Risiken freilich verschloss
man die Augen: Die Rechnung wurde ohne den Nationalstaat gemacht. Wer aber
den Nationalstaat für obsolet erklärt, erreicht möglicherweise genau das
Gegenteil von dem, was er will. So irrten beispielsweise überzeugte
Europäer wie auch einige von Lionel Jospins Ministern nach ihrem
Wahldebakel, wenn sie meinten, das Phänomen Le Pen könne nur "europäisch"
gelöst werden. Das übersah geflissentlich die Ängste unter den Wählern,
sei es im Blick auf unkontrollierte Einwanderung, sei es auch nur wegen
eines Gefühls allgemeiner Machtlosigkeit. Was hat denn nationale Politik
noch für eine Bedeutung, so wird gefragt, angesichts immer mächtiger
werdender ungewählter Brüsseler Bürokraten?
Vor zwei Jahren, anlässlich eines Abendessens in Berlin, sagte mir ein
deutscher Diplomat, ihn habe an meinem Stalingrad-Buch am meisten meine
These beschäftigt, die Nazis hätten beim Überfall auf die Sowjetunion
Ursache und Wirkung vollkommen verwechselt. Wie konnte das Regime, so
hatte ich damals geschrieben, davon ausgehen, der Angriff werde dem
russischen Nationalgefühl den Todesstoß versetzen? Mein Gesprächspartner
wurde noch mehr verblüfft, als ich ihm gestand, zwar seien die Briten in
ihrer Obsession mit dem Zweiten Weltkrieg zu weit gegangen, aber der
heutige, völlig andersartige Idealismus der Deutschen mache ihnen durchaus
zu schaffen. Ganz entgeistert schließlich schaute er mich an, als ich ihm
berichtete, am führenden Universitätszentrum für Kriegsstudien in
Großbritannien studiere man inzwischen künftige Konfliktszenarien im
vereinten Europa.
Kriege zwischen Staaten, vor allem solche in Europa, gehören gnädig der
Vergangenheit an, auch weil es nie einen Anlass gegeben hat für
ausgewachsene Demokratien, gegeneinander Krieg zu führen. Von dieser
Prämisse aus wirkt der Versuch, Konflikte zu verhindern durch
Amalgamierung von Nationalstaaten, als ob Generäle den nächsten Krieg mit
der Taktik des letzten führen wollten. Es wird dabei übersehen, dass alte
Ressentiments und Eifersüchte durchaus noch am Leben sind und zu neuem
Streit führen können. Das führt uns zur Frage und zur Rolle kollektiver
Identitäten. Europäische Staaten mit starker nationaler Identität haben
immer ihre Binnenverschiedenheiten akzeptiert, einschließlich der
Notwendigkeit, Ressourcen von reicheren zu ärmeren Landesteilen zu
transferieren. Das ist weniger ausgeprägt in Ländern mit einer stärker
fragmentierten Geschichte, also etwa in Belgien, Italien oder auch
Deutschland, wo interregionale Solidarität immer wieder erkämpft werden
muss, sich nicht von selbst versteht.
So viel kann man voraussagen: Die Europäische Union, mit all ihrem
Bemühen um eine europäische Identität, wird eher noch größere Probleme
bekommen auf dem Weg, die binneneuropäischen Verschiedenheiten zu
homogenisieren, als sie einige Nationalstaaten für sich schon in der
Vergangenheit hatten. Als ein griechischer Diplomat mir unlängst
auseinander setzte, die Nordstaaten der EU müssten eine Umverteilung ihres
Wohlstandes als eine Art "Solidaritätssteuer" zu Gunsten der Südstaaten
hinnehmen, damit diese aufholen können, gab ich ihm zur Antwort, das werde
zu einer ähnlichen Situation führen wie mit der Liga Nord in Italien.
Wenden wir den Blick von der EU nach Russland: Hier spielt die
Vergangenheit eine wiederum ganz andere Rolle. Nach Jahrzehnten
sowjetischer Propaganda ist es nicht leicht für die russische
Gesellschaft, ihrer Geschichte offen ins Auge zu schauen. Es geht ja um 70
Jahre - nicht, wie im deutschen Fall, um zwölf -, in denen Millionen von
Menschen auf verbrecherische Weise um ihre Erfüllung gebracht wurden. Der
sowjetische Sieg von 1945 macht es erst recht schwer, grundsätzlich zu
überprüfen, wie der Große Patriotische Krieg denn nun wirklich geführt
wurde. Nachdem er mich wegen meines neuen Buches "Berlin - Das Ende 1945"
erst der Lüge, der Verleumdung und der Blasphemie bezichtigt hatte, meinte
der russische Botschafter in London später zu mir: "Antony, das musst du
verstehen - der vaterländische Sieg ist uns heilig." Ich stimmte ihm zu,
doch mit der Ergänzung, das immense Opfer an menschlichem Leid habe ihn
heilig gemacht. Genau das ist ja der Grund, warum selbst
antistalinistische Russen noch heute solche Probleme haben, dieses Kapitel
ihrer Geschichte aufzuarbeiten.
Russische Leser meines Buches fühlen sich nicht einmal so sehr berührt
durch die Berichte über Massenvergewaltigungen deutscher Frauen als davon,
dass sowjetische Frauen und Mädchen, zur Sklavenarbeit nach Deutschland
verschleppt, ein ähnliches Schicksal erlitten. Das Elend dieser jungen
Frauen, die inständig gehofft und gebetet hatten, von der Roten Armee
befreit zu werden, ist eingehend, mit allen schrecklichen Details, in
einem Geheimbericht an das Zentralkomitee des sowjetischen Jugendverbandes
Komsomol festgehalten worden. Es schwächt auf dramatische Weise das
traditionelle sowjetische Argument, "Exzesse" seien nur vorgekommen als
Rache für deutsche Gräueltaten.
Zum ersten Mal kam in Deutschland in den achtziger Jahren das Thema der
Massenvergewaltigungen allmählich an eine breitere Öffentlichkeit. Noch
heute wollen einige der Opfer nicht mit ihren Erlebnissen heraus, um ihre
Familien vor der dunklen Wahrheit zu schützen. Das ändert sich jetzt. Mich
hat tief bewegt, wie viele nach Großbritannien emigrierte deutsche Frauen
nach der englischen Erstveröffentlichung meines Buches auf mich zugekommen
sind. Mehrere von ihnen bekannten gerade heraus, sie hätten bisher nie
gegenüber ihren britischen Freunden oder Familien über diese Dinge
sprechen können, weil niemand geglaubt hätte, was ihnen widerfahren war.
Geschichte - unser Verhältnis zu ihr selbst ändert sich. Bislang wurde
sie geschrieben mehr unter "kollektiven" Aspekten: die Geschichte eines
Landes, einer sozialen Klasse, einer Armee und so fort. Doch etwa seit den
neunziger Jahren will eine neue Generation, weit gehend befreit von
traditionellen Gruppenloyalitäten, mehr wissen von den Erfahrungen und
Erlebnissen des Individuums schlechthin. In einer Welt, die das
persönliche Risiko weit gehend ausgeschaltet hat, findet es diese
Generation fast unvorstellbar, dass es einmal eine Vergangenheit gegeben
haben soll, so gefährlich, so unvorhersehbar, dass der Einzelne sein
Schicksal fast kaum steuern konnte. Sie fragen sich unwillkürlich, ob sie
wohl selbst das alles überstanden hätten, physisch, moralisch, ob sie
beispielsweise den Mut aufgebracht hätten, die Aufforderung,
Kriegsgefangene oder Zivilisten zu erschießen, zu verweigern.
Doch noch immer klammern sich viele Menschen, ob aus Unsicherheit oder
Frustration, an die Identität ihres Stammes oder Landes. Günter Grass hat
Recht: Unterdrücke diese Gefühle, und du verstärkst nur das Ressentiment,
das aus ihnen erwächst. Viel besser, offen und bestimmt darauf zu
verweisen, was aus ihnen werden kann, wenn man nicht aufpasst. Speer hatte
Unrecht. Die Geschichtsschreibung muss das Ende betonen, weil in ihm die
wahren Folgen grotesker Ideologien evident werden.
Aus dem Englischen von Thomas Kielinger
Von dem britischen Historiker Antony Beevor erschien soeben: "Der
Untergang Berlins 1945" (Bertelsmann, München. 512 S., 24,90 E).
Die Onlineversion dieses Artikels finden Sie unter:
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